Ist die Integration fremdländischer Kinder möglich, kann deren Adoption gelingen? Ist die Adoption wirklich eine Hilfe für ein Kind aus der Dritten Welt? Welche besonderen Probleme gibt es in der Schule? Ist ein fremdländisches Adoptivkind auch als Heranwachsender noch in unsere Gesellschaft integriert? Was bleibt den Eltern, wenn das Kind erwachsen wird? Will es in sein Heimatland zurückkehren? Wie wirken sich Ausländerfeindlichkeit und Arbeitslosigkeit aus?

 

Die Erfahrungen, die in diesem Buch dargestellt werden, sind eine Orientierungshilfe für Eltern mit fremdländischen Kindern ebenso wie für  Eltern, die daran denken, ein Kind aus der Dritten Welt zu adoptieren, und vor allem auch für Berater, Lehrer und Erzieher, die mit diesen Problemen befasst sind.

 

Über die Autorin. Dr. phil Margot Weyer, geboren 1925. Langjährige ehrenamtliche Tätigkeit in der Adoptionsvermittlung des Kinderhilfswerks Terre des  Hommes Deutschland e.V.", u. a. als Leiterin des Adoptionsreferats und als Vorstandsmitglied. Danach ebenfalls ehrenamtlich tätig in verschiedenen Funktionen im Verein "Eltern für Kinder e.V." Verheiratet, 2 Söhne, eine Adoptivtochter aus Vietnam.

 

 

Aus dem Inhalt:

 

Sie müssen eine weite Reise tun; Aller Anfang ist schwer; Gute Nacht; Das Klammeräffchen; Zu jedem gleich zutraulich; Kummerspeck und Fresswelle; Wie Geschwister; Trotz und Tobsucht; Endlich macht unser Kind sich schmutzig; Jetzt bin ich kein Baby mehr; Nussaugen und Mandelaugen; Muttersprache; Selbst Spielen will gelernt sein; Das leidige Kapitel Schule; Gratwanderungen; Nun wirf doch nicht gleich die Flinte ins Korn; Lässt du mich auch ganz bestimmt nicht fallen? Unser Kind ist nicht ehrlich; Unser Kind ist ja so artig; Warum bloß? Ich will wieder zurück; Wer bin ich, woher komme ich? Werden wir es jemals schaffen? Keine Angst vor Rat und Hilfe; Zwischenbilanz; Sind wir eine richtige Familie geworden? Wie sieht es denn jetzt mit der Geschwisterliebe aus? Woher - wohin? - Noch einmal die schwierige Zeit der Pubertät; 2 x Heimat; Was sie werden wollen; Das kann er ja nicht von mir haben; Eine Reise in das Herkunftsland; Enttäuschte Erwartungen - erfüllte Hoffnungen; Ich bin in Vietnam geboren          ; Frage =  Antwort, Berufstätige Mütter – allein stehende Mütter; Sind Adoptiveltern anders?   Wer sollte nicht adoptieren?                                                          

                                                                                             

 

Leseprobe:

 

Endlich macht unser Kind sich schmutzig

 

Die Situation in Heimen oder Waisenhäusern bringt es mit sich, dass die Kinder dort schon sehr früh auf Sauberkeit und Ordnung dressiert werden. Sie passen sich diesen Forderungen an, und zwar in einem Maße, wie es ihrem Alter nicht entspricht. Es ist gut, wenn es den Kindern gelingt, die Entwicklungsphasen eines normalen Kindes auch auf diesem Gebiet nachzuholen. Zwar ist es für die Eltern sicherlich bequem, wenn sie ein sauberes und ordentliches Kind haben, und manchmal mögen sie hoffen, dass die leiblichen Kinder sich von ihrem neuen Bruder einiges an Ordnung abgucken. Aber andererseits kann es erschreckend sein, wenn so ein kleiner Bub wie ein Automat gedrillt ist.

 

»Fredericks Ordnungsliebe war phantastisch. Abends wusch er seine Strümpfe und Unterhose aus und hängte sie zum Trocknen auf, die übrigen Kleider wurden gefaltet und neben das Bett gelegt, die Schuhe standen millimetergerecht ausgerichtet daneben. Morgens wusch er sich mit unglaublicher Gründlichkeit, baute sein Bett, als stünde der Unteroffizier daneben, setzte sich wie eine Maschine an den Tisch. Wir waren völlig erschüttert und wussten nicht, wie wir reagieren sollten. Wir wollten ihn ja auch nicht von Anfang an total verunsichern, indem wir jede seiner Gewohnheiten ablehnten. Trotzdem war uns dieser kleine, stets etwas lächelnde Roboter fremd und unheimlich, so dass wir fast verzweifelten. Aber nach einer Woche passierte etwas so Komisches, dass der Bann gebrochen war. Er musste während des Essens mehrmals aufstoßen und sprang dabei jedes Mal auf, knallte die Hacken zusammen und salutierte mit todernstem Gesicht. Da konnten wir nicht mehr an uns halten und brachen in ein Gelächter aus, wie er selbst es wohl noch nicht gehört hatte. Er schaute uns völlig entgeistert an und musste dann einfach mit lachen. Es war, als wäre damit ein Panzer um ihn zusammengebrochen. Er wurde aus einer unheimlichen Kindermaschine ein ganz normales und übrigens sehr liebenswertes Kind. Es ist uns bis jetzt noch nicht gelungen, aus ihm herauszubekommen, was das alles zu bedeuten hatte. War es nur harter Drill gewesen, oder wurde diese Routine von ihm in den ersten, für ihn sicherlich sehr aufregenden Tagen als ein Schutz benutzt, als eine Mauer, hinter der er seine kleine verletzliche Seele verstecken konnte?«

 

»Miriam war zwanzig Monate alt, als sie aus Korea zu uns kam. Am Anfang aß sie sehr sauber, wobei sie den Löffel wie ein Erwachsener hielt. Wenn ihr wirklich einmal ein Krümel herunter fiel, pickte sie ihn wie ein Vogel schnell wieder auf und steckte ihn gierig in den Mund. Dabei beobachtete sie unsere Gesichter, ob wir etwas bemerkt hatten. Als sie feststellte, dass wir ihr nicht ständig auf die Finger guckten und nicht schimpften, wenn etwas daneben fiel, fing sie an, nach Leibeskräften zu schmieren. Sie aß nur noch mit den Fingern, goss Kakao in den Teller und rührte und matschte darin herum. Sie schien ein großes Nachholbedürfnis in dieser Beziehung zu haben. Wir ließen sie gewähren und waren darauf gefasst, dass auch unsere beiden fünf und sieben Jahre alten Kinder wieder anfangen würden zu schmieren. Zu unserem Erstaunen aber verstanden sie vollkommen, warum Miriam sich auf einmal wie ein kleines Ferkel benehmen musste, und waren stolz darauf, dass ihre eigene Schmierzeit vorbei war. Bei Miriam dauerte diese Phase etwa zwei Wochen, danach aß sie wieder sehr sauber und freute sich, dass ihre Geschwister nun nicht mehr leicht überheblich bei Tisch auf ihre Ferkelei schauten.«

 

Die kleine Miriam war offensichtlich in ihrem früheren Heim mit Strenge zur Sauberkeit dressiert worden, und sie hatte, wie ihre Eltern bemerkten, etwas nachzuholen. Als sie spürte, dass ihre Eltern sie auch als kleines Ferkelchen akzeptierten, konnte sie sich von diesem ihrem Alter nicht mehr entsprechenden Verhalten wieder lösen.

 

Jetzt bin ich kein Baby mehr

 

Sauberkeitsdressur - das bedeutet dort, woher das Kind kommt, auch und vor allem strenge Strafe bei nächtlichem Einnässen. Die Betreuer im Heim haben zu viel Arbeit und zu wenig Lohn, als dass man von ihnen erwarten könnte, dass sie mit Gleichmut die Decken und Tücher waschen, ganz davon zu schweigen, dass ihnen oft jegliche Einsicht in die psychischen Ursachen des Einnässens abgeht, da sie ja nicht kinderpsychologisch ausgebildet sind. Auch ist es verständlich, dass die Schlafnachbarn, sei es die Familie oder die Gefährten im Heim, mit Unmut reagieren und strafen, wenn ein nächtliches Missgeschick passiert, denn sie schlafen oft nebeneinander auf einer großen Matte oder zusammen in einem Bett. Gerade wegen dieser strengen Dressur und drakonischen Strafen ist nächtliches Einnässen eine Verhaltensauffälligkeit, die vielen Heimkindern auch bei uns in Deutschland eigen ist. Begreiflicherweise stört dieses Verhalten die Eltern sehr, und die Kinder leiden, besonders wenn sie älter werden, selbst darunter. (Das Daumenlutschen, eine andere Auffälligkeit, die oft die gleichen Ursachen hat, wird dagegen merkwürdigerweise höchstens von Zahnärzten, nicht aber von den Eltern als bedenklich erkannt.)

 

Es kommt vor, dass ein Kind, das im Heim ständig eingenässt hat, zu Hause vom ersten Tag an trocken ist. Manchmal auch ist es umgekehrt; das Kind kann sich erst zu Hause erlauben, sein Bett nass zu machen, ohne die strengsten Strafen befürchten zu müssen, die es im Heim dafür bekommen hätte. Ausgelacht werden, am Pranger stehen, Prügelstrafe, ja selbst nachts stundenlang an der Wand stehen waren dort keine Seltenheit. Manchmal auch reagieren die leiblichen Kinder, die schon lange »sauber« waren, auf die Ankunft des Geschwisters mit erneutem nächtlichen Einnässen. Dies ist ja auch häufig bei der Geburt eines weiteren leiblichen Kindes der Fall. Wir wissen heute, dass Bettnässen fast ausschließlich durch seelische Störungen verursacht wird. In vielen Fällen leuchtet es uns sofort ein, worauf ein Kind so reagiert, aber manchmal ist es recht schwer herauszufinden, warum ein Kind nicht sauber werden will oder besser gesagt werden kann.

 

"Miriam, zwanzig Monate alt, war bei ihrer Ankunft zu unserem Erstaunen schon sauber und trocken. Nach ein paar Tagen jedoch machte sie zum ersten Mal in die Hose. Sie versteckte sich daraufhin, wahrscheinlich aus Angst vor Strafe. Als wir aber weder dieses Mal noch bei weiteren Malen mit Schimpfen oder Schlagen reagierten, fing sie an, sich sehr häufig beim Spielen zu vergessen. Also kaufte ich Windeln und zog sie ihr an. Die schien sie jedoch so schick zu finden, dass sie sie nicht nass machen wollte.«

 

Manchmal genügt es, dem Kind klarzumachen, dass es so lange ins Bett machen mag, wie es nur Lust hat, und dass es der Mutter überhaupt nichts ausmacht, wenn die Hose nass ist und man die Wäsche häufig waschen muss. Das gelingt aber nur, wenn man das ganz ehrlich sagen kann. Nur vorgetäuschte Toleranz hilft da gar nichts, denn das Kind spürt ja, dass man nicht ehrlich ist. Vielleicht kann man heraus finden, ob bestimmte Erlebnisse des Tages zum nächtlichen Einnässen führen. Gelingt es, diese Erlebnisse aufzuarbeiten oder solche Erfahrungen zu vermeiden, dann ist oft das Problem gelöst.

 

So wie aber auch die leiblichen Kinder bei der Ankunft eines Geschwisters wieder das Bett nass machen und damit zeigen wollen, dass auch sie wieder ein Baby sein möchten (weil man ja als Baby offensichtlich von der Mutter sehr viel mehr geliebt wird), kann es auch sein, dass Ihr erst im Alter von zwei, drei Jahren in die Familie hinein geborenes Kind es nötig hat, noch einmal ein ganz kleines, umsorgtes und verwöhntes Baby zu werden, und dazu gehört ja der Luxus, in die Windeln machen zu dürfen.

 

Oft liegt aber die Ursache irgendwo in der Vorgeschichte des Kindes, und davon weiß man ja zu wenig. Auf jeden Fall müssen die Eltern sich klar machen, dass Einnässen ein Alarmzeichen ist, ein Hilferuf des Kindes in einer Notlage.

 

Wenn Sie feststellen, dass diese Verhaltensauffälligkeit sich merkbar bessert, dass auch der sonstige Integrationsprozess des Kindes ständig fortschreitet, dann können Sie ruhig abwarten. Dies bedeutet nämlich, dass Sie sich dem Kind gegenüber richtig verhalten, dass die Liebe und Zuwendung, die es jetzt in Ihrer Familie erfährt, ihre heilende Kraft beweisen und dass es die Entbehrungen seiner Vergangenheit allmählich überwindet.

 

Zeigt sich aber je nach dem Alter des Kindes nach ein bis zwei Jahren noch keine wesentliche Besserung, dann wird es Zeit, den Fachmann um Rat zu fragen, und zwar nicht nur den Kinderarzt, sondern den Psychologen oder Kindertherapeuten, der Ihnen vielleicht auch helfen kann, Ihre eigene Einstellung zum Problem der Sauberkeit zu überprüfen und möglicherweise zu ändern.

 

Eines Tages wird aber auch Ihr Kind so weit sein, dass es die Windel oder das Gummituch im Bett energisch von sich weist und erklärt: »Das brauche ich jetzt nicht mehr, ich bin doch kein Baby!«